Sonntag, 8. Mai 2016

Kalt ist der Abendhauch - Ingrid Noll

Alte Liebe macht jung

Ingrid Nolls Roman Kalt ist der Abendhauch veröffenlichte der Diogenes Verlag  1996.

 

Charlotte Schwab ist bereits 83 Jahre alt, aber aufgeregt wie ein junges Mädchen, denn ihre Jugendliebe Hugo kommt zu Besuch! Dafür muss ihr Enkel noch schnell renovieren und Charlotte plaudert
aus dem Nähkästchen. Leider wurde diese Liebe nicht mit einer Hochzeit gekrönt. Hat diese Liebe jetzt zum Lebensabend noch eine Chance? 
 


Zitat S. 181:
Hugo und ich plaudern genussvoll über exclusive Details aus unseren verflossenen Eheleben, wobei wir die Regel, über Tote nur Gutes zu sagen, geflissentlich missachten.

Und wieder hat es Ingrid Noll geschafft, mich mitzureißen und eine interessante Person zu beschreiben. Was sich so in Charlottes Leben alles ereignet hat, erzählt die Autorin auf unglaublich frische Weise. Ironisch, humorvoll und auch sarkastisch. Toll!

Es ist wieder ein großer Genuss, eine Person wie Charlotte kennen zu lernen. Man merkt wie faustdick es diese alte Dame hinter den Ohren hat. Denn der Besuch von Hugo, ihrem Freund, Schwager und zeitweiligem Geliebten lässt die beiden Jugendfreunde über alte Zeiten plaudern und dabei werden dunkle Geheimnisse gelüftet, die man so nicht erwartet hat. Natürlich spielt wie immer bei Ingrid Noll hier eine Frau die Rolle der Mörderin eines Mannes, dessen Tod man aus Lesersicht
gut verkraften kann und man hat vollstes Verständnis für die Beweggründe Charlottes.

Hier werden alte Menschen aus einer Perspektive jenseits von verkalkten, friedfertigen und geduldsamen Menschen ohne eigene Wünsche dargestellt. Man hat es vielmehr mit einer Heldin zu tun, die ironisch auf ihre Jugend, die Liebe und ihre eigene Nachkommenschaft schaut. Sie reflektiert das Gewesene, erklärt die schwierige Zeit um 1945 und folgende Jahre, in der ihr Ehemann Bernhard als Kriegsheimkehrer in ihr Leben unerwartet zurück kehrte. Sie zeigt aber auch ihre jetzigen Wünsche für ihren Lebensabend, nimmt kein Blatt vor den Mund was die Sexualität angeht und zeigt mit ironischer Weise wie sie die Welt sieht.

Amüsant ist auch die Rolle der Enkelin dargestellt, die nicht nur äußerlich, sondern auch mit ihrer speziellen Art ihrer Großmutter nacheifert. Mehr kann ich hier nicht verraten!

Die raffinierte Erzählweise Ingrid Nolls hat mich auch bei diesem Roman wieder erfreut und wie sie Familiengeheimnisse erfindet, sie literarisch leicht zu einer komplexen Handlung umsetzt und dabei einfach nur gut unterhält ist anerkennenswert. 



Eine brillant geschriebene Erzählung, die tief in verschiedene Generationen hineinleuchtet und mit leichter Ironie und etwas schwarzem Humor gut unterhält.


 

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