Ein hervorragend geschriebener Roman um ein juristisches Urteil um Leben oder Tod.
Ian McEwans Roman "Kindeswohl" erschien 2015 als deutsche Auflage im Diogenes Verlag.
Fiona Maye ist angesehene Familienrichterin am High Court in London, kinderlos und seit über 30 Jahren verheiratet, glücklich, wie sie meint. Doch dann wird sie von ihrer privaten Ehekrise überrascht, muss sich aber zeitgleich mit höchsten Urteilen in schwierigen Gerichtsfällen beschäftigen. Einer der Fälle dreht sich um einen beinah volljährigen Jungen, der schwerkrank ist und zum Überleben dringend eine Bluttransfusion benötigt. Die Eltern sind als überzeugte Zeugen Jehovas dagegen und Fiona soll aufgrund des Alters des jungen Mannes ihre Entscheidung fällen, ein Urteil für das Leben oder dagegen. Sie macht es sich nicht leicht, besucht den Jungen im Krankenhaus und muss unter Zeitdruck ihre Entscheidung fällen. Wie wird sie urteilen?
Fiona führt ein arbeitsreiches, aber zufriedenes Leben als oberste Familienrichterin, ihren Erfolg hat sie sich durch harte Arbeit und schwierige Präzedenzfälle erkämpft. Gerade als ihr Mann ihre Ehe in Frage stellt, wird sie auch beruflich vor eine schwierige Entscheidung gestellt. Der junge Adam Henry lehnt aus religiösen Gründen eine rettende Bluttransfusion ab. Seine Erziehung und der Einfluss seiner Eltern und religiöser Mitglieder der Zeugen Jehovas sorgen bei ihm für diese Entscheidung, die seinen Todesstoß bedeuten würde. Fiona hat nur einen Tag Zeit für ihr Urteil.
Bei diesem Roman wird mal wieder das einzigartige Schreibvermögen Ian McEwans sichtbar. Er führt uns in eine Welt voller gerichtlicher Fälle, in denen im Sinne des Kindeswohls entschieden werden muss. Fiona Maye führt uns bei ihrer Arbeit als Richterin in verschiedenste Fälle ein, es geht um Entscheidungen von Recht und Moral, bei denen man selbst ins Nachdenken kommen kann. Oberste Priorität hat stets das Wohl des betreffenden Kindes.
Im vorliegenden Fall des Adam Henry bekommt Fiona durch den persönlichen Kontakt, durch verbindende Hobbys wie Musizieren und Gedichte schreiben aufkommende Gefühle für den Jungen. Dennoch versucht sie ein unabhängiges Urteil zu fällen. Es ist gerade diese Diskrepanz zwischen rationaler beruflicher Entscheidungsfähigkeit und emotionaler Betroffenheit, die diesen Roman so spannend machen.
Dabei ist es beeindruckend, wie der Autor schwierige juristische Sachverhalte einbaut und dabei die rechtliche Standpunkte aus ethischer, religiöser und juristischer Sicht einfach und klar vorstellt oder begründet.
Es ist beeindruckend, wie feinfühlig Ian McEwan die Gedankengänge von Fiona schildert, man lernt auch die Zukunftswünsche der jungen Fiona kennen. Als fast 60 jährige Frau liebt sie das Musizieren von Klassik und fühlt sich in der Literatur zu Hause, sie ist eine interessante und hochintelligente Person.
Ihre Arbeit wird in Form einiger beispielhafter Gerichtsfälle vorgestellt, diese haben mich sehr interessiert und ich bin von Fionas Urteilen eingenommen, denn sie erscheinen voller professioneller Genauigkeit und zudem mit einem angenehm menschlichen Wohlwollen. Der berufliche Druck ist groß, das Urteil zu Adam lässt keine langen Entscheidungen zu und dabei steht sie privat unter dem Druck, ihre Ehe vor dem Verfall zu bewahren.
Doch Fiona ist trotz der innerlich ausgeübten Kämpfe eine glaubwürdige Figur. Sie ist die Mittlerin zwischen sozialem Gewissen und gesellschaftlicher Verantwortung und setzt sich für das Wohl von Kindern ein. Mit Adam hat sie einen besonderen Fall zu entscheiden, ihm kommt sie durch die gemeinsamen Interessen Musik und Gedichte gedanklich sehr nahe.
Dieses Buch regt zum Fachsimpeln an, es gibt Denkanstösse nicht nur in Sachen Rechtsprechung, sondern auch in Beziehungsfragen und verpassten Chancen im Leben.
Ein beeindruckender Roman über Schuld, Moral und Ethik, der den Leser über seine eigenen Wertevorstellungen nachdenken lässt.
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